Stuttgart 21: Das Ding aus einer anderen Zeit - Ausgabe 602

2023-02-15 17:02:01 By : Mr. Jack Zhang

Dass Stuttgart 21 nach wie vor eine Riesenbaustelle ist, animiert auch den britischen Komiker John Cleese (Monty Python) zu einem Tweet. Doch manches wird tatsächlich fertig: die Neubaustrecke, ein S-Bahn-Notfallkonzept, das den Namen kaum verdient, und 82 Prozent der Tunnel, in denen es besser nicht brennen sollte.

Gut Ding will Weile haben, sagt der Volksmund, das gilt auch für Stuttgart 21 – mit der Einschränkung, dass man mit dem Adjektiv "gut" hier sehr zurückhaltend sein sollte. Nachdem die Weile, die das megalomane Stadtumgrabungs-Ding haben will, schon für so manchen Spott gesorgt hat, äußerte sich jüngst auch ein prominenter Brite: Der Humorist und Schauspieler John Cleese, bekannt vor allem als Mitglied der Komikertruppe Monty Python, weilte vor Kurzem in Stuttgart, war dort in einem Hotel nahe des Bahnhofs respektive der Riesenbaustelle untergebracht, hatte dort aus dem Fenster geschaut – und Konsequenzen gezogen, die er per Twitter mitteilte: "I might stay in today…" – vielleicht bleibe ich heute drinnen.

Das konnte natürlich nicht unkommentiert bleiben. Schnell meldete sich Stadtsprecher Sven Matis zu Wort, der an Cleeses Vorstellungskraft und Geduld appelierte: "If you stayed longer, you might see that Stuttgart is given an opportunity only few large cities have: the dismantled track space offers the chance to develop a new district right in the middle of the city centre." – Wenn Cleese länger in der Stadt bliebe, könnte er sehen, wie sich Stuttgart eine Gelegenheit eröffnet, die nur wenigen Großstädten zuteil wird: Die Demontage der Bahngleise bietet die Chance, ein neues Viertel direkt im Zentrum der Innenstadt zu entwickeln.

Merkwürdigerweise wurde dies nicht als Satire auf die PR-Worthülsen gedeutet, mit denen Stuttgart 21 seit Jahr und Tag ummäntelt wird, sondern als ernsthafte Aussage. Und so zog die Wortmeldung einen weiteren Rattenschwanz an Twitter-Reaktionen nach sich, an denen sich auch Kontext, natürlich im Dienste der Aufklärung, beteiligte. Erst einen Tag später wurde klar, dass Cleeses Tweet vermutlich Teil einer besonders raffinierten PR-Strategie war: Er sollte sensibilisieren für die am vergangenen Donnerstag erfolgte Entscheidung des Stuttgarter Gemeinderats, für die erste Fläche des, in Matis' Worten: "new district" einen internationalen Ideenwettbewerb auszuloben. Aus dem bei dieser Gelegenheit präsentierten Zeitplan geht hervor, dass der erste Neubau frühestens Ende 2033 fertig wird. John Cleese müsste also nur noch gut elf Jahre länger in Stuttgart bleiben, dann wäre er 93, das ist ja kein Alter heutzutage, um, mit viel Glück, wenn alles gut geht, also aller Erfahrung nach eher… egal, um dann unter Umständen zu sehen, was aus dem Blick aus seinem Hotelzimmer wird.

Dass das mit der Bebauung auf den ehemaligen Gleisflächen noch eine etwas längere Weile dauert, als sich viele S-21-Fans wünschen, dass eher Ende der 2030er und Anfang der 2040er Jahre realistisch erscheinen, ist keine ganz neue Erkenntnis (Kontext berichtete). Apart ist aber doch, dass zu dem wenigen Konkreten, was es bislang zur künftigen Bebauung der durch S 21 freiwerden Flächen gibt, eine Tiefgarage mit 350 Stellplätzen gehört, direkt neben dem Bahnhofstrog. Die zugrunde liegende Mobilitätsidee ist auf geradezu reizende Weise museal, sehr 90er: Erst quälen sich Pendler endlos durch die zu enge und stauverstopfte Innenstadt, ehe sie in einer zu engen Tunnelhaltestelle dann in einen Hochgeschwindigkeitszug steigen, um ganz schnell zum Beispiel in Ulm zu sein. Ein Ding aus einer anderen Zeit.

Apropos Ulm: Da könnte John Cleese, sollte er mal wieder in Stuttgart weilen, noch deutlich vor seinem 93. Geburtstag schneller hin. Denn nach einer gewissen Weile werden manche Dinge tatsächlich auch fertig, so etwa die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm (NBS), auf der ab Dezember regulär Züge fahren sollen. In früheren Zeiten hieß es immer wieder mal, dass die NBS ohne Stuttgart 21 sinnlos sei, nun verkünden Bahn und das baden-württembergische Verkehrsministerium, dass schon jetzt die Reisezeit zwischen Landeshaupt- und Münsterstadt im Fernverkehr um bis 15 Minuten, im Regionalverkehr um vier bis sieben Minuten schneller werde. Statt aktuell 55 Minuten im ICE also nur noch 40 Minuten. Dass das Verkehrsministerium dazu schreibt, "der größere Sprung der Fahrzeitverkürzung folgt mit der Inbetriebnahme von Stuttgart 21", offenbart allerdings eine gewisse Rechenschwäche: Mit Stuttgart 21 sinkt die Fahrzeit auch laut Bahn nur noch auf eine halbe Stunde, eher 32 Minuten, und das auch nur, wenn nicht am Flughafen gehalten wird, dann werden es nochmal einige Minuten mehr. Dass man dank Neubaustrecke auch ohne S 21 genauso schnell wäre, rechneten einige Kopfbahnhofsfreunde schon 2018 vor (Kontext berichtete).

So oder so, die NBS wird nicht nur deutlich vor S 21 fertig, sie erlebte auch weniger dramatische Kostensteigerungen: nur knapp verdoppelt, von 2009 kalkulierten 2,025 Milliarden auf 3,985 Milliarden. Im Gegensatz zu den bald vervierfachten Kosten bei S 21 also praktisch nichts. Trotz dieser läppischen knapp vier Milliarden bleibt ihre Kosten-Nutzen-Bilanz zweifelhaft: Wirtschaftlich sollte sie auch in der Ursprungskalkulation überhaupt erst durch mysteriöse Leichtgüterzüge werden, die die teils extremen Steigungen überwinden können sollten, die aber noch nie jemand gesehen hatte. Ihre Chimärenhaftigkeit spielte wohl zuletzt bei Heiner Geißlers Faktencheck 2010 eine gewisse Rolle. Ob sie sich irgendwann materialisieren, bleibt spannend. Von den Klimakosten angesichts des CO-2-intensiven Tunnelbaus – gut 50 Prozent Tunnelanteil bei 60 Kilometern Strecke – wollen wir gar nicht erst anfangen.

Jüngst wurde noch etwas fertig, auf das manche gefühlt seit dem Faktencheck warteten: Die Bahn stellte endlich ein Störfallkonzept für die S-Bahn der Region Stuttgart vor, wenn wegen Stuttgart 21 die alte Verbindung zur Gäubahn bzw. Panoramabahn gekappt sein sollte – denn momentan dient diese noch als Ausweichstrecke. Winfried Hermanns (Grüne) Verkehrsministerium hält die Gäubahn bei S-Bahn-Problemen weiterhin für wichtig und will sie daher weiter nutzen – und einen Ergänzungsbahnhof. Bahn und glühende S-21-Fans halten das für überflüssig. Die ersten Entwürfe für Störfallkonzepte wurden immer wieder kritisiert, weil Ersatzverkehr durch den Fildertunnel zwischen Tiefbahnhof und Flughafen geleitet werden sollte, eine zusätzliche Verengung eines Engpasses.

Auch die S1 nach Böblingen/Herrenberg nutzt im Störfall die Gäubahnstrecke. Noch jedenfalls.

In der neuen Konzeption nun wird der Ersatzverkehr durch den Fildertunnel geleitet, dazu sollen ein paar Zusatzfeatures wie die digitale Sicherheitstechnik ETCS und eine Kehranlage beim Hauptbahnhof dafür sorgen, dass alles gut geht. Der Verkehrsclub Deutschland (VCD) ist schon mal nicht überzeugt: "Das Konzept ist ein Rückschritt", urteilt Gero Treuner, Vorstand im VCD-Landesverband Baden-Württemberg, "denn nur mit Erhalt der Panoramastrecke zwischen Stuttgart und Vaihingen lassen sich Fahrtverlängerungen bei Störungen in der Stammstrecke auf das Maß einer Viertelstunde begrenzen". Und der Fildertunnel, so Treuner, leiste "nur gut die Hälfte der Panoramabahn".

Der Fildertunnel ist übrigens noch nicht fertig, dafür viele andere S-21-Tunnel. Genauer gesagt 82 Prozent von ihnen, 51 von 62 Kilometern. Das sind schon jetzt rund 8 Prozent aller anderen deutschen Eisenbahntunnel. Es waren allerdings keine unfeierlichen Prozentwerte, die in der vergangenen Woche in Stuttgart von Vertretern der Deutschen Bahn, der Stadt, Bundes- und Landespolitik sowie Europäischer Kommission gefeiert wurden: Die hohen Gäste bejubelten am 5. Oktober, dass "alle Tunnel im Stuttgarter Talkessel" fertig gegraben seien. Dazu gehörten Lobpreisungen der künftigen Segnungen durch das Bahnprojekt, von einem "Meilenstein für das trans-europäische" war die Rede, einer "fit fürs 21. Jahrhundert" gemachten Schieneninfrastruktur oder gar "Licht am Ende des Stuttgart-21-Tunnels" (OB Frank Nopper). Dass Tunnelfeierlichkeiten im Rahmen von Stuttgart 21 Erweckungsgottesdiensten ähneln, war auch in der Vergangenheit schon zu beobachten (Kontext berichtete).

Fertig gebohrt ist freilich noch nicht ganz fertig, und auch wenn in näherer Zukunft beim Fildertunnel vergleichbare Jubelarien erklingen werden, wird sein Brandschutzkonzept, will sagen, das Fehlen eines tauglichen, noch für viel Freude sorgen (Kontext berichtete). An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, dass die Bahn für ihr Rettungskonzept keine Brandfälle simulierte. Warum nicht, das erklärte unnachahmlich Florian Bitzer von der DB-Projektgesellschaft Stuttgart-Ulm (PSU) im April 2021: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Zug im Tunnel einfach liegen bleibe, ohne zu brennen, sei nun mal "mit Abstand größer als ein Brandereignis."

Diese Begründung hätte möglicherweise auch John Cleese gefallen. Auch wenn wir ihm nicht wirklich empfehlen wollen, sich eingehender mit dem Projekt zu beschäftigen.

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